Dürren & Digitalisierung: Uni Hohenheim will Big Data zum Schutz vor Dürren nutzbar machen  [03.04.17]

Angesichts des Klimawandels wagt 25-köpfiges Forschungsteam völlig neuen Ansatz / Exzellenzstrategie könnte Visionen den nötigen Schub geben

Der Klimawandel ist da und in Europa nehmen Dürren samt Ernteausfällen bereits zu. Um Landwirtschaft, Wirtschaft und Gesellschaft dagegen zu wappnen, setzt ein Forscherteam der Universität Hohenheim nicht nur auf Pflanzenzüchtung und angepasste Anbauverfahren. Den Durchbruch sollen die zunehmende Digitalisierung und das sog. "Internet der Dinge" bringen. Für diese Vision vereinigen handverlesene Expertinnen und Experten aus allen Fakultäten der Universität Hohenheim in Stuttgart ihren Sachverstand und Forschungsambitionen. Zusätzliche Expertise finden sie bei herausragenden Kollegen der Universitäten Stuttgart, Tübingen und am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Dabei baut Deutschlands Nr. 1 in der Agrarforschung auf eingespielte Teams und hochrangige Vorarbeiten auf. Die millionenschwere Finanzierung für die extrem aufwendige Grundlagenforschung könnte die Exzellenzstrategie von Bund und Ländern in Form eines Exzellenzclusters bringen. Arbeitstitel des Projektes: „Landwirtschaftliche Dürren im digitalen Zeitalter“ (Agricultural Droughts in the Digital Era – AGER)

Agricultural Droughts in the Digital Era – AGER | Bildquelle: imageBROKER / Alamy Stock Photo

 

Es sind Gedanken wie diese, die Prof. Dr. Thilo Streck als Sprecher des Expertenteams umtreiben: Weil der Kraftaufwand beim Pflügen unter anderem auch von der Feuchtigkeit des Bodens abhängt, könnten Computer aus den Bewegungsdaten aller Traktoren und aus deren Dieselverbrauch eine ungeahnt präzise Karte der Bodenfeuchte in Deutschland errechnen.

Mit diesem Datenschatz ließen sich dann auch neue Computerprogramme zur saisonalen Wetter- und Erntevorhersage füttern. Mit deren Vorhersagen wird angestrebt, dass Landwirte bereits im März wissen, ob im Juni oder Juli eine Dürre droht und welche Gewinneinbußen sie zu erwarten haben. Sie könnten dann zu Saisonbeginn Feldfrüchte säen, die schnell abgeerntet sind, ihre Düngungsmengen anpassen oder auf trockenresistente Neuzüchtungen umsteigen.

Lohnunternehmer könnten den Maschinenbedarf für ihre Erntekampagnen vorausplanen, Versicherungen maßgeschneiderte Programme für den Ertragsausfall auflegen. Und Lebensmittelproduzenten könnten ihre Produktionsabläufe auf Angebot, Menge und Zeitpunkt ausrichten.


Visionen mit hohem Forschungsbedarf – doch wichtige Grundlagen sind bereits da

Ganz so einfach wie dargestellt, ist die Rechnung natürlich nicht. Denn neben der Bodenfeuchte bestimmt vor allem auch der Tongehalt den Pflugwiderstand. Doch auch diese Effekte lassen sich wahrscheinlich aus den Daten herausfiltern.

Auf jeden Fall braucht es jedoch noch sehr viel Grundlagenforschung. Und vielleicht wird sich dieses ganz konkrete Gedankenspiel so auch nie erfüllen.

Aber: Schon heute besitzen die neueren Traktoren Bordcomputer, die diese und viele weitere Daten aufzeichnen und in sogenannte Daten-Clouds übertragen. Weitere Daten stammen z.B. von Agrardrohnen, wie sie die Universität Hohenheim bereits einsetzt. Oder von speziellen Sensoren, die den Düngungszustand und Schädlingsbefall von Pflanzen erkennen können.

Besondere Erfahrung besitzt die Universität Hohenheim auch bei der Entwicklung neuartiger Software für Klimaprognosen, die unerreicht kleinräumige und präzise Vorhersagen treffen. Dabei kommt ihr zugute, dass Physiker, Pflanzenwissenschaftler und Agrarökonomen hier Hand in Hand arbeiten.

„Wie sich das Klima vor Ort entwickelt, ist das Ergebnis von hochkomplizierten Wechselwirkungen zwischen Pflanzen, die Wasser verdunsten, der Atmosphäre, wo sich die Wolken bilden, und dem Menschen, der zum Beispiel als Landwirt entscheidet, welche Pflanzen er wann, wo und wie anbaut“, erklärt Prof. Dr. Streck. „An der Universität Hohenheim haben wir es geschafft, für alle Teilprozesse Computermodelle zu programmieren, die wir gerade zu einer Gesamtsoftware für den Supercomputer am Hochleistungsrechenzentrum Stuttgart zusammensetzen.“


Wesentliche Voraussetzungen: Besseres Verständnis von Pflanze und Ökosystem

Auf solche und auf viele andere Vorarbeiten wollen die Forscherinnen und Forscher zurückgreifen, wenn sie nun bei AGER erforschen, wie sich Landwirtschaft, Wirtschaft und Gesellschaft speziell gegen die zunehmenden Dürreperioden wappnen können.

Ein Baustein dabei sind neue Züchtungskonzepte für Pflanzensorten, die auch ungünstigere Verhältnisse ohne größere Ernteverluste überstehen. Doch um diese besser züchten zu können, müssen die Forscher erst einmal die Genetik und die Prozesse verstehen, die bei der Dürre innerhalb von Pflanzenzellen ablaufen.

„Bisherige Ergebnisse stammen aus Gewächshäusern und entsprechen oft nicht der Realität“, begründet Prof. Dr. Streck den besonderen Forschungsbedarf. Dabei gilt es, abertausende von Substanzen in ungezählten Pflanzen zu analysieren – eine Aufgabe, die nur mit modernster Analytik und Bioinformatik zu bewältigen ist.

Ein weiteres Team untersucht die Ökologie des gesamten Ökosystems auf dem Acker: „Dabei geht es um Fragen, wie sich bei verschiedenen Arten von Dürre die Gleichgewichte zwischen Nutzpflanzen, Unkräutern, Bodenleben, Nutz- und Schadinsekten verschieben. Oder um die Frage, ob wir auf einem Acker verschiedene Nutzpflanzen mischen, die sich das Wasser aus verschieden tiefen Bodenschichten holen und so Dürren in Gemeinschaft besser überstehen.“


Unabdingbar: bessere Saison-Vorhersagen und Big-Data-Analysen

Große Bedeutung haben auch bessere saisonale Wetter- und damit Ernteprognosen. Prof. Dr. Volker Wulfmeyer vom Institut für Physik: „Unser Ziel ist es, Jahreszeitenvorhersagen für die kommende Vegetationsperiode zu verbessern und damit auch den letztlich erzielbaren Ernteertrag zu prognostizieren. Bislang lässt sich das Wetter nur für ein paar Tage präzise vorhersagen, wir müssen also Wege finden, sehr viele und sehr detaillierte Messdaten zu erheben und auszuwerten.“

Eine Spezialität der Universität Hohenheim ist es, auch das menschliche Anpassungsverhalten in die Computersimulationen mit einzubeziehen. Mit der sogenannten „Agenten-Technologie“ schufen die Forscherinnen und Forscher eine virtuelle Parallelwelt, in der virtuelle Landwirte aufgrund von Marktpreisen, Wettervorhersagen, Agrarpolitik und Umweltauflagen entscheiden, wie sie ihre Höfe bewirtschaften, was sie in der kommenden Saison anbauen, wie viel sie düngen und wie sie ihre Pflanzen schützen.

„Diese virtuelle Welt wollen wir jetzt um Big Data erweitern, d.h. wir wollen die vielen Daten nutzen, die von Produktion über Weiterverarbeitung und Verkauf von Agrarprodukten anfallen“, sagt Agrarökonom Prof. Dr. Thomas Berger. „Besonders vielversprechend ist, dass wir mit unseren Computermodellen auch Kooperation von Landwirten simulieren können. Wir können z.B. herauszufinden, ob der Austausch von Wirtschaftsdüngern, gemeinsam genutzte Erntemaschinen oder zwischen Nachbarn abgestimmte Pflanzenschutzkampagnen lohnenswert sind.“

Die Datenanalyse und Simulation könnte später auch reale Landwirte, die Wirtschaft und die Politik bei ihren Entscheidungen unterstützen. So ließen sich einzelne Abschnitte aus Produktion, Logistik und Verarbeitung besser aufeinander abstimmen, Mineraldünger und natürliche Ressourcen sparen und das gesamte bioökonomische System weniger anfällig für Extremsituationen wie zum Beispiel Dürren machen.


Besonderes Plus: Kombination von Spitzenforschern und Spitzentechnik

Für ihre Vision setzt die Universität Hohenheim auf eine Vielzahl von Kompetenzen, die in dieser Kombination in Deutschland nicht noch einmal zu finden sind. Sie reicht von der Grundlagenforschung in molekularer Biologie über Züchtungsinformatik, Smart Farming oder Precision Farming, Klimaforschung, Fernerkundung bis zu Big-Data-Analysen und Innovationsökonomik.

An dem Projekt beteiligen sich deshalb Biologen, Pflanzenbauer, Ökologen, Bodenkundler, Physiker, Ökonomen und Spezialisten für Unternehmensfinanzierung. Dabei handelt es sich um handverlesene Expertinnen und Experten, die zur Spitze ihres jeweiligen Fachs gehören. Den Kern bildet die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Forschergruppe Regionaler Klimawandel – ein seit über 10 Jahren perfekt eingespieltes Team in Hohenheim.

Ihnen allen kommt zu Gute, dass die Universität Hohenheim in den vergangenen Jahren jede Chance für wegweisende Investitionen nutzte. Ergebnisse sind u.a. eine Core-Facility mit Hightech-Analytik, die speziell auf die Bedürfnisse der Hohenheimer Forschung ausgerichtet ist.

Ebenfalls im Aufbau ist ein spezielles Daten-Labor (X3-Lab) für Big-Data-Analyse und Simulation komplexer Systeme. Hinzu kommen das neue Land-Atmosphären-Feedback-Observatorium mit weltweit einzigartiger Messtechnik und das Phytotechnikum, Deutschlands modernstes Forschungsgewächshaus.


Rektorat gab Anschubhilfe durch Ausstattung und neue Professuren


„Unsere Forscherinnen und Forscher brennen für die Idee. Im Rektorat haben wir die Pläne deshalb nach Möglichkeit unterstützt“, konstatiert der Rektor der Universität Hohenheim, Prof. Dr. Stephan Dabbert.

Zur Unterstützung gehören nicht nur technische Ausstattung und technisches Personal. „Speziell für diese Forschungsarbeiten haben wir auch eine eigene Professur 'Quantitative Genetik und Genomik der Nutzpflanzen' und zwei Juniorprofessuren für 'Physiologie der Ertragsstabilität' und 'Datenassimilation im Erdsystem' eingerichtet.“


Förderung als Exzellenzcluster könnte Vision wahr werden lassen

Den großen Durchbruch wird aber nur eine massive Förderung erlauben, wie sie ein Exzellenzcluster im Rahmen der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern bringen könnte. Die Universität Hohenheim hat deshalb am heutigen Montag einen entsprechenden Vorantrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht.

„Dabei geht es um wissenschaftliche Mitarbeiter und um die weitere Hightech-Ausstattung, mit der wir Dürren und ihre Auswirkungen im Freigelände simulieren, messen und auswerten können. Dazu kommt der notwendige Ausbau unseres Hochleistungs-Rechennetzes für die immensen Datenmengen, die anfallen und verarbeitet werden müssen.“

„Essentiell für die weitere Forschung sind die zusätzliche Professuren „Quantifizierung von Unsicherheit“ und „Digitale Bioökonomik“ sowie Juniorprofessuren in Spezialgebieten der Agrarökologie und molekularbiologischer Informationsverarbeitung, die wir nur mit der entsprechenden Förderung einrichten können“, berichtet Rektor Prof. Dr. Dabbert.

 

Einmalige Arbeitsbedingungen für wissenschaftlichen Nachwuchs

Vor allem aber setzt die Universität Hohenheim auf talentierten wissenschaftlichen Nachwuchs. Der Großteil der beantragten Fördersumme im Exzellenzantrag geht deshalb in die Einrichtung von Nachwuchsforschergruppen und eines zusätzlichen Doktorandenprogramms.

„Mit jungen Wilden haben wir in den vergangenen Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Universität Hohenheim hat sich deshalb in Bezug auf die Nachwuchsforschung stark weiterentwickelt, um besonderen Talenten eine anregende Arbeitsumgebung zu bieten“, erklärt der Rektor.

Zu den Erfolgen der vergangenen Jahre gehören unter anderem ein preisgekröntes Graduiertenprogramm, eine spezielle Personalentwicklung für den wissenschaftlichen Bereich im Rahmen der Hohenheim-Konstanz-Ulm Research Alliance, die Ausstattung aller Juniorprofessuren mit Tenure Track und individuellen Coaching-Angeboten. Mit einer Förderung als Exzellenzcluster wäre es der Universität Hohenheim möglich,  diese Angebote zu verstetigen und weiter zu verstärken.


Gleichstellung und Genderkonzept kann auf Erfolgen aufbauen

Besonderen Wert legt die Universität Hohenheim auch auf Gleichstellung und Gender-Aspekte in dem neuen Projekt.

„In den vergangenen Jahren hat der Frauenanteil auf unseren Lehrstühlen erheblich zugenommen. Und auch das hat der Universität gut getan“, berichtet Rektor Prof. Dr. Dabbert.

Bei den Neuberufenen wurde in den vergangenen zwei Jahren Gleichstellung schon erreicht: Die Universität Hohenheim hat genauso viele Professorinnen wie Professoren berufen. „Dabei hat uns geholfen, dass unser Gleichstellungsplan das Thema Gendergerechtigkeit als Querschnittsthema für die ganze Universität definiert hat“, berichtet die Beauftragte für Gleichstellung, Prof. Dr. Ute Mackenstedt.

Die Vorgabe des Landes 20% der Lehrstühle mit Professorinnen zu besetzen, hat die Universität Hohenheim mit ihrem aktuellen Professorinnen-Anteil von 25% längst erfüllt. Damit liegt sie auch sichtbar über dem Landesdurchschnitt, der 2015 gerade mal die vorgegebenen 20% Professorinnen-Anteil betrug.

Aktuell arbeitet die Universität an einer ambitionierteren Neufassung des Gleichstellungsplanes. „Unser selbstgestecktes Ziel ist ein Geschlechterverhältnis von 1:1 auf allen Qualifikationsstufen“, so Prof. Dr. Dabbert.


Langjährige exzellente Forschung gebiert eine wegweisende Vision


„Wir sind sicher, dass wir hier äußerst anspruchsvolle Grundlagenforschung leisten können, die sich auch auf andere Regionen der Welt übertragen lässt und einen Beitrag für ein gesellschaftlich besonders drängendes Problem liefert“, resümiert Sprecher Prof. Dr. Streck. Nur die Exzellenzstrategie biete jetzt die einmalige Chance, diese ambitionierten Pläne wahrwerden zu lassen, unterstreicht auch Rektor Prof. Dr. Dabbert.

„Für dieses Projekt haben sich die Besten in ihren Bereichen zusammengefunden. Dieses Team vereinigt eine einzigartige Expertise, wie sie nur an der Universität Hohenheim vorhanden ist. Es wurde dann noch um herausragende Kollegen der Universitäten Stuttgart, Tübingen und der Max Planck Gesellschaft ergänzt. Gemeinsam haben sie die langjährige exzellente Forschung zu einer einzigartigen Vision weiterentwickelt“, lautet die Einschätzung des Rektors.


HINTERGRUND:
Bioökonomie an der Universität Hohenheim


Neue Lebens- und Futtermittel, Energie aus Ernteabfällen, Chemikalien und Kunststoffe aus Pflanzen: Die Bioökonomie eröffnet neue Wege zu neuen Produkten, neuen Produktionsverfahren und zu einer modernen, nachhaltigen Wirtschaft. Denn ihre Rohstoffe sind biobasiert, d.h. sie stammen von Pflanzen, Tieren oder Mikroorganismen.

Die Universität hat dieses gesellschaftlich wichtige Thema zu ihrem gesamtuniversitären Schwerpunkt gemacht. Denn aufgrund ihres einzigartigen Fächerspektrums kann sie das Thema Bioökonomie von der Rohstoffproduktion bis zum nötigen Umbau der Wirtschaft als gesamtuniversitäres Schwerpunktthema beleuchten.

Die Themen Klimawandel, Dürren und Digitalisierung sind wichtige Aspekte innerhalb einer biobasierten Wirtschaft. Sie werden von der Universität Hohenheim im Rahmen der Bioökonomie-Forschung deshalb mit Nachdruck verfolgt.

Text: Klebs

Kontakt für Medien:

Prof. Dr. Thilo Streck, Universität Hohenheim, Sprecher des Forschungsvorhabens „Landwirtschaftliche Dürren im digitalen Zeitalter“ (Agricultural Droughts in the Digital Era – AGER)
T 0711 459 22796, E thilo.streck@uni-hohenheim.de


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